Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann, ein Christ, war unter den Flüchtenden, ebenso wie der österreichisch-jüdische Literat Stefan Zweig, der schrieb: „Und in dem Augenblick, wo der Zug über die Grenze rollte, wusste ich wie der Urvater Lot der Bibel, dass alles hinter mir Staub und Asche war, zu bitterem Salz erstarrte Vergangenheit.“ *
Auch seine Reaktion auf die Nachricht zum Tod seiner Mutter kurz nach seiner Flucht beschreibt Zweig. Er empfand weder Schock noch Trauer – vielmehr war es ein Gefühl von Frieden, dass er sie nun endgültig von Gefahr und Leid bewahrt wusste. Ein tägliches Ritual seiner Mutter war ein ausgedehnter Spaziergang, aber im Alter von 84 Jahren wurde sie immer unsicherer auf den Beinen. Sie musste regelmäßig eine Pause auf einer Straßenbank oder in einem Park einlegen – Pausen, die ihr nicht mehr erlaubt waren, weil die Nazis Juden verboten, sich auf öffentlich zugänglichen Sitzmöglichkeiten aufzuhalten. Zweig räumte ein: „Glücklicherweise blieb es meiner Mutter erspart, derlei Rohheiten und Erniedrigungen lange mitzumachen.“
Die Geschichten der Zugpassagiere und die Gründe, die sie dazu brachten, den Zug zu besteigen, sowie ihr weiteres Schicksal sind in Filmarchiven, literarischen Texten und Zeugenaussagen aus dieser Zeit dokumentiert. Kaum jemand könnte besser als Stefan Zweig die Geschichten und Beweggründe derer erzählen, die sich auf diese Reise begaben:
„Mit nackten Händen mussten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ›Heil Hitler‹ zu schreien. Man fing unschuldige Menschen auf der Straße wie Hasen zusammen und schleppte sie, die Abtritte der SA.-Kasernen zu fegen.“
Langsam erkannte die wohlhabende Bevölkerung die Gefahr und begann, eine Flucht in Erwägung zu ziehen.
„Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter von Woche zu Woche als die vor ihnen gekommenen. Die ersten, die am raschesten Deutschland und Österreich verlassen, hatten noch ihre Kleider, ihre Koffer, ihren Hausrat retten können und manche sogar etwas Geld. Aber je länger einer auf Deutschland vertraut hatte, je schwerer er sich von der geliebten Heimat losgerissen, um so härter war er gezüchtigt worden.“
„Erst hatte man den Juden ihre Berufe genommen, ihnen den Besuch der Theater, der Kinos, der Museen verboten und den Forschern die Benutzung der Bibliotheken: sie waren geblieben aus Treue oder aus Trägheit, aus Feigheit oder aus Stolz. Lieber wollten sie in der Heimat erniedrigt sein als in der Fremde sich als Bettler erniedrigen. Dann hatte man ihnen die Dienstboten genommen und die Radios und Telefone aus den Wohnungen, dann die Wohnungen selbst, dann ihnen den Davidstern zwangsweise angeheftet; jeder sollte sie wie Leprakranke schon auf der Straße als Ausgestoßene, als Verfemte erkennen, meiden und verhöhnen. Jedes Recht wurde ihnen entzogen, jede seelische, jede körperliche Gewaltsamkeit mit spielhafter Lust an ihnen geübt […]. Wer nicht ging, den warf man in ein Konzentrationslager, wo deutsche Zucht auch den Stolzesten mürbe machte, und stieß ihn dann ausgeraubt mit einem einzigen Anzug und zehn Mark in der Tasche aus dem Lande“.
Diese tragische Lage verschlimmerte sich schnell, als der abfahrende Zug zu einem Transportzug wurde, der quasi-menschliche Kreaturen mit blassen, schmutzigen Gesichtern, eingefallenen Augen, unruhigem Blick und aufgesprungenen Lippen transportierte.
Verängstigte Kreaturen, besiegt, verwirrt und erschöpft, wurden in Kolonnen der völligen Kapitulation und Niederlage zu den Waggons des Zuges geführt, wie eine Truppe von ausgedienten Kühen.
Das Schicksal sollte Zweig wie auch schon seiner Mutter wohlgesonnen sein, er hat diese schreckliche Entwicklung nicht miterlebt. Die Geschichte wird schreiben, dass der beste und wahrhaftigste Literat seiner Zeit das heimatlose Leben im Exil nicht ertragen konnte. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Charlotte beging Zweig am 23. Februar 1942 in Petropolis, Brasilien, Selbstmord.
Zur gleichen Zeit glaubte die nationalsozialistische Partei, den Höhepunkt ihrer Vorhaben und ihres Gedankenguts erreicht zu haben, und ging zur Umsetzung über. Der Moment war gekommen, um die rassische "Homogenität" des reinen deutschen Volkes herzustellen, dessen makellose Abstammung von Konstitution und Couleur aus allen Menschen auserwählt war. Für dieses Ziel musste "das auserwählte Volk der Erde" das "auserwählte Volk Gottes" dezimieren.
Konnte sich der deutsche Bürger in der Zeit von "Hitlers Zug" jemals vorstellen, dass diese Lokomotive eines Tages wachsame, ängstliche Menschen befördern würde, Anhänger einer andere Religion, Angehörige einer anderen Ethnie, Träger anderer Sprachen und Identitäten, die von außerhalb Europas in das Herz Deutschlands einfuhren - und sich so in einen Zug der Hoffnung und der frohen Botschaft verwandeln würden?
Genau das ist 2015 geschehen, als Bundeskanzlerin Angela Merkel alle Nachbarländer Deutschlands anwies, ihre Züge in den Dienst der Menschen zu stellen, die aus den Brennöfen ihrer eigenen Länder flohen. Während die deutschen Juden in einem Moment entkamen, in dem das Gewissen der Welt schlief und die Moral ihre Augen geschlossen hatte, sahen die Kameras nun zu, wie der Zug voller Frauen und Kinder, alter und junger Menschen, die aus Syrien kamen, und anderer, die sich mit ihnen eingeschlichen hatten, aus den Nachbarländern nach Deutschland einfuhr.
Die Flüchtenden waren erschöpft, ihre Kleidung schäbig, schmutzig und fleckig, ihre Schuhe abgenutzt und zerrissen, die meisten von ihnen hinkten auf ihren geschwollenen, entzündeten und eitrigen Füßen, ihre Gesichter schmutzig, staubig und braun gebrannt von ständiger Sonne und fehlendem Unterschlupf. Nur ihre Augen leuchteten – ein Licht der Hoffnung und der Erwartung.
Die Syrer im Zug entkamen denselben Lebensverhältnissen, die zuvor die deutschen Juden zur Flucht verleiteten, denn das Assad-Baath-Regime hat kein geeigneteres Nachahmungsbeispiel gefunden als die Nazis.
Beide Parteien sind nationalsozialistisch ausgerichtet, beide versuchen, ethnische Homogenität durchzusetzen, beide haben Krematorien gebaut, und beide gründen sich auf die Anbetung und Vergötterung ihres Führers.
Die Anhänger Hitlers skandierten: "Hitler ist größer als der Messias", während die Anhänger von Hafez al-Assad feierten und wiederholten: "Hafez al-Assad, wir verehren ihn vor Gott". Die Tauben unter den Anhängern seines Sohnes - Bashar - gurrten: "Gott, Syrien, Bashar und sonst nichts", während ihre Schlagstöcke auf die Körper ihrer Beute einschlugen. Sie standen da und schrien ihre Opfer mit dem Zorn dieser und der nächsten Welt an: "Wer ist euer Gott?" Sie zwangen die gequälten Opfer, ihre letzten Worte auszusprechen: "Bashar ist mein Gott."
So wie die verfolgten Deutschen vor der Bestie des Nationalsozialismus flohen, so flohen die verfolgten Syrer vor dem Ungeheuer des baathistischen Assadismus. Sie stürzten sich ins Meer, ohne sich von der Aussicht des Ertrinkens abhalten zu lassen - Flucht war ihre einzige Wahl; absolute Hoffnungslosigkeit war gleich Hoffnung und Leben gleich Tod – Die Wahrscheinlichkeit zu überleben war nicht größer als die Wahrscheinlichkeit zu ertrinken. Sie ergriffen das, was sie für eine gute Chance hielten, anstatt unter dem Zwang des erbarmungslosen Regimes zu bleiben.
Wenn Hitler mehr Böses in die Welt gebracht hat als jeder andere in den Jahrhunderten vor ihm, so hat auch Bashar al-Assad in Syrien mehr Böses hervorgebracht als jeder andere zuvor.
Europa war das Opfer der Machtgier eines Mannes. Genauso wurde Syrien das Opfer der Machtgier eines Mannes und des Verlangens seiner Familienmitglieder nach allem, was Macht mit sich bringt – ganz gleich, wie abscheulich und sinnlos sie ist.
Das deutsche Bewusstsein war auf dem Höhepunkt seiner Wachsamkeit, seine moralische Vision auf dem Höhepunkt seiner Klarheit an dem Tag, als Deutschland entschied, dass syrische Geflüchtete, die vor der Unbarmherzigkeit des Assad-Regimes fliehen, deutschen Flüchtlingen vor den Nazis gleichen. Denn nichts wird die Schande des vorangegangenen Zuges - der zugleich ein Begräbnis und ein Friedhof war - besser abtragen als ein nachfolgender Zug, der für diejenigen, die alles verloren haben, eine Chance des Lebens und ein Tor zu Hoffnung und Erwartung sein würde: Ein Zug der Annäherung zwischen Menschen, der Begegnung, der Hilfe und des Trostes.
Und so war es dann auch. Entlang der Strecke und an den Bahnhöfen dieses Zuges, entlang der Länder, Städte und Ortschaften, standen Menschenmassen - Helfer, Freiwillige humanitärer Organisationen und einzelne Europäer, die einladende Worte und ein Lächeln schenkten, Umarmungen, Wasser, Mahlzeiten, Obst und Süßes verteilten und Kleidung, Schuhe und Spielzeug für die Kinder überreichten.
Die Freude dieser Europäer war so groß wie die einer Familie, die ein Neugeborenes willkommen heißt! Als ob sie bei sich selbst denken würden: "Wenn sich die Menschheit an einem Ort zu vergehen droht, gibt es einen anderen Ort, an dem sie knospen und blühen kann".
Und so kam es, dass die Menschheit innerhalb von zwei kurzen Zeitabschnitten zwei Züge erlebte, einen Zug der Qual und einen Zug des Trostes: Hitlers Zug und Merkels Zug. Möge der zweite Zug die Schande des ersten besiegen.
* Stefan Zweig: "Die Welt von gestern". 1942
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Aus dem Englischen von Miriam Maurer
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